Forderungspapier des Landesfrauenrates

Forderungspapier des Landesfrauenrates

Der Landesfrauenrat Niedersachsen hat ein Forderungspapier zur Anpassung der Maßnahmen an die Lebenswirklichkeit von Frauen und LSBTTIQ* in Zeiten der aktuellen Covid-19-Pandemie veröffentlicht.

Die Corona-Pandemie hat das gesellschaftliche Leben in den letzten Monaten stark verändert. Drastische Maßnahmen, die in beinahe jeden Lebensbereich hineinreichen, wurden getroffen, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Alle Menschen sind davon betroffen, die Auswirkungen zeigen sich jedoch sehr unterschiedlich. Dieses Papier soll den Fokus auf die Belange von Frauen und Menschen mit LSBTIQ*-Hintergrund richten.
In der Diskussion der vergangenen Wochen tauchte immer wieder der Begriff „Systemrelevanz“ auf. Dieser ist jedoch nicht unproblematisch, denn er suggeriert eine Art Alternativlosigkeit. Doch wenn auch unbestritten ist, dass die (bezahlte) Arbeit bestimmter Berufsgruppen während der Pandemie unerlässlich war (dazu zählen z. B. das Personal in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, aber auch der Lebensmitteleinzelhandel – dazu unten mehr), wurden andere Bereiche (z. B. Beratungsstellen) als weniger bedeutend angesehen und ge-schlossen. Ganz außen vor bleibt bei dieser Betrachtung die Arbeit, die zurück in die Haus-halte und damit überwiegend auf Frauen verlagert wurde. Das fängt mit der Pflege an, die vielfach privat organisiert werden musste, weil z. B. Tagespflegeeinrichtungen geschlossen wurden, und reicht bis zum Homeschooling. Um das gesellschaftliche System in der Krise aufrecht zu erhalten, waren auch diese zu Hause erbrachten Leistungen systemrelevant – sie kommen in der Diskussion aber kaum vor und werden in ihrer Bedeutung nicht wertgeschätzt. Allein diese wenigen Beispiele zeigen, dass durch den Begriff „Systemrelevanz“, wie er in den letzten Wochen genutzt wurde, zwischen „wichtigen“ und „unwichtigen“ Menschen unterschieden wurde. Doch die politischen Entscheidungen während der Corona-Krise soll-ten eigentlich nicht das System, sondern die Menschen in unserem demokratischen Gemein-wesen, also die gesamte Gesellschaft schützen. In diesem Papier wird daher auf den Begriff der „Systemrelevanz“, wie er sich eingebürgert hat, verzichtet.

Politische Entscheidungen und ihre Folgen
In der Corona-Krise hat sich gezeigt, welche Berufe unverzichtbar sind: Medizinisch und pflegerisch Tätige, Hebammen, Frauen in Beratungsstellen, Erzieher*innen und Arbeitskräfte im Einzelhandel – um nur einige zu nennen – haben weitergearbeitet. In all diesen Berufszweigen sind überwiegend Frauen beschäftigt. Oft werden sie unterdurchschnittlich bezahlt, teil-weise müssen sie ohne Tarifverträge auskommen. Allein im Gesundheitswesen arbeiten laut Statistischem Bundesamt zu 75,6 % Frauen. Die Corona-Krise wurde ausschließlich unter klinischen Aspekten betrachtet. Damit wurden wesentliche Merkmale der ganzheitlichen Betrachtung von Gesundheit als bio-psychosozialem Prozess ausgeklammert. Darunter leiden insbesondere die Beschäftigten in den Berufsgruppen, die als „systemrelevant“ bezeichnet werden, aber z. B. auch alte Menschen in Pflegeeinrichtungen, die über Wochen keinen Besuch empfangen durften. Die mangelnde Beteiligung von Gleichstellungs-/Diversitybeauftragten von Kommunen, Behörden, Kliniken und medizinischen Fakultäten in Entscheidungsgremien, Krisenstäben oder Ethikräten hat zu einer Schieflage bei der Bewertung der Folgen der Corona-Krise als umfas-sendes und langfristiges gesundheitliches Problem sowohl für die Beschäftigten als auch für Patient*innen und Klient*innen geführt.

Die Krise führt zum Rückschritt
Erste Studien zeigen: In der Krise verfallen viele Paare wieder in althergebrachte, allmählich überwunden geglaubte Rollenmuster. Wieder sind es oft Frauen, die beruflich zurückstecken und Kinderbetreuung und Pflege von Angehörigen übernehmen. Aber Homeoffice eignet sich nicht als Betreuungsmodell. Dennoch jonglieren dort, wo Menschen diese Möglichkeit haben, insbesondere die Mütter damit, unter erschwerten Bedingungen Beruf und Kinderbetreuung zeitgleich zu bewältigen. Besonders betroffen sind Alleinerziehende.

Auswirkungen der Krise auf Frauen
Viele Frauen arbeiten in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Diese bieten in Krisen meist keine Kurzarbeit an, sodass diese Nothilfe bei ihnen nicht ankommt. Andererseits haben, anders als in vorangegangenen Wirtschaftskrisen, viele Branchen (z. B. Gastronomie, Einzel-handel, Tourismus), in denen überwiegend Frauen beschäftigt sind, Kurzarbeit angemeldet. Mittelfristig dürfte sich daher die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern durch die Corona-Krise vergrößern. Die derzeitigen Verdienstausfälle führen damit langfristig auch zu einer weiteren Steigerung des Gender Pension Gap. Zudem verschlechtern sich die Karriereperspektiven von Frauen in der Wissenschaft, da seit Beginn der Corona-Krise ein Rückgang der Publikationen von Frauen, nicht aber von Männern nachgewiesen ist.
Aus der Armuts- wie der Public Health-Forschung ist bekannt, dass Armut die Ursache vieler Krankheiten ist. Insbesondere Herzkreislauferkrankungen, psychische Erkrankungen und Atemwegs- und orthopädische Erkrankungen sind als Folge von anhaltenden Stresssituationen bekannt. Rund zwei Drittel (62,3 %) der Pflegebedürftigen sind Frauen, bei den über 80-jährigen liegt ihr Anteil über 70 %. In Pflegeheimen waren Frauen daher deutlich stärker von der Isolation betroffen. Frauen sind mit 70 % nach wie vor Hauptverantwortliche, wenn es zu einem Pflegefall in der Familie kommt. Sie leisteten schon vor der Krise durchschnittlich 21 Stunden unbezahlte Sorgearbeit pro Woche und kombinieren diese in 65 % der Fälle mit Berufstätigkeit.

Besonders vulnerable Gruppen
Zu den besonders verletzlichen Gruppen gehören neben Frauen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen auch Frauen mit Migrations- und Fluchterfahrung. Insbesondere letztere sind weit zurückgeschlagen, wenn sie aufgrund von Traumata durch Gewalterfahrung dringend psychotherapeutischer Hilfe bedürfen, weil telefonische Sitzungen in der Muttersprache nur begrenzt angeboten werden und oft weder Kenntnisse noch Ausstattung für Videokonferenzen vorhanden sind. Auch die „Psychotherapie zu Dritt“ ist mit eingeschränkten Kommunikationsmitteln so gut wie ausgeschlossen. Gleichzeitig wurden die meisten Auf-nahmen für Tageskliniken aus Infektionsschutzmaßnahmen drastisch zurückgefahren. Zusätzlich leben diese Frauen oft mit mehreren Kindern in sehr beengten Wohnverhältnissen, die sie an die Ankunft in den überfüllten Flüchtlingscamps erinnern und negative Erlebnisse verstärken. Im Hinblick auf häusliche Gewalt ist auch hier mit einer hohen Dunkelziffer zu rechnen.
Wenn schon grundsätzlich für Schwangere durch fehlende Begleitung ein Problem bestand, so gilt dies für Frauen mit Fluchthintergrund wie auch für Frauen mit geistigen Einschränkungen in besonderem Maße: Durch nicht-barrierefreie Kommunikation werden zusätzlich Ängste und Unsicherheiten ausgelöst.

Forderungen des Landesfrauenrates Niedersachsen:
1. Einbeziehung unterschiedlicher Perspektiven
Gerade in einer Krise ist es wichtig, die unterschiedlichen Lebens-, Arbeits- und Lohnbedingungen der verschiedenen Geschlechter zu berücksichtigen.

  • Beratungs- und Entscheidungsgremien sowie die Katastrophen- und Krisenstäbe sollten auf allen Ebenen grundsätzlich paritätisch besetzt werden und auch eine Diversitätsperspektive vertreten können. Die Expertise von Gleichstellungsbeauftragten ist einzubeziehen.
  • Finanzielle Hilfsmaßnahmen müssen transparent sein, damit bei der Vergabe und in der anschließenden Evaluation die Wirkungen auf die Geschlechter sichtbar bleiben und ge-prüft werden kann, ob die eingesetzten Mittel allen gleichermaßen zugutekommen.
  • Obwohl es ausgezeichnete Wissenschaftler*innen in allen Disziplinen gibt, wurden insbe-sondere während der Anfangsphase der Pandemie von Politik und Medien überwiegend Männer als Experten herangezogen. Dies muss sich in Zukunft ändern!


2. Beratungsstellen, Frauengesundheitszentren

  • Es müssen Strukturen geschaffen werden, die eine optimale gesundheitliche und psycho-soziale Beratung und Begleitung auch in Krisenzeiten ermöglichen. Die mehrheitlich von Frauen besetzten Stellen dürfen nicht dem Rotstift zum Opfer fallen. Besonders vulnerable Patient*innen und Klient*innen müssen wissen, dass sie auch in Ausnahmesituationen verlässliche Ansprechpartner*innen haben.
  • Prekär Beschäftigte müssen die Möglichkeit des Zuverdienstes zu Einkünften aus SGB-II-Bezügen oder Erwerbsminderungsrenten erhalten.
  • Für Migrant*innen müssen, wo dies nötig ist, Beratungspersonen mit entsprechender kultureller und sprachlicher Expertise dauerhaft bereitstehen. Sprachmittler*innen müssen Zugang zu stationären Einrichtungen haben.
  • Behinderte Frauen sind insbesondere in Heimen und Werkstätten verstärkt von Gewalt bedroht. Auch für sie müssen Schutzkonzepte für derartige Krisensituationen geschaffen werden. Eine barrierefreie Kommunikation muss sichergestellt werden.
  • Für obdachlose Frauen müssen geschützte Rückzugsräume zur Verfügung stehen. Beispielhafte Projekte haben unterschiedliche Einrichtungen bereits auf Eigeninitiative hin konzipiert. Diese sind flächendeckend umzusetzen.
  • Auch LSBTTIQ* benötigen insbesondere während einer Krise Beratungsangebote mit niederschwelligem Zugang.


3. Arbeitssituation von Pflegefachpersonen
In der weltweiten Covid-19-Pandemie wurde die hohe Bedeutung der Pflegefachpersonen verstärkt deutlich. Jahrelang wurden Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen ausschließlich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten geführt. Im europaweiten Vergleich liegt Deutschland beim bettenbezogenen Personalschlüssel in stationären Einrichtungen weit hinten. Die Folgen sind katastrophal: Burnout, Krankheitsausfälle, Abwanderung in andere Berufe und Nachwuchsmangel werden durch die Pandemie verstärkt. Zahlreiche COVID-19-Infektionsfä-lle sind unter den Pflegefachpersonen verzeichnet. Pflegekräfte sind überlastet und ihre Arbeit wird von Ängsten begleitet Fehler zu begehen, die Konsequenzen für die Genese der Patienten beinhalten.

  • Pflegende müssen ausreichend Schutzausrüstung erhalten und regelmäßig auf Covid-19 getestet werden, um die Gesunderhaltung von Pflegefachpersonen in allen Einrichtungen zu gewährleisten.
  • Die Bemessungsuntergrenze für die Zahl der Betten je Pflegeperson muss angehoben werden, um eine angemessene, professionelle und humane Pflege zu gewährleisten. Krankenhäuser und Pflegedienste müssen bei politischen Entscheidungen als Einrichtungen der Daseinsvorsorge betrachtet werden, nicht als Wirtschaftsunternehmen.
  • Statt vorübergehender Prämien aus aktuellem Anlass braucht es für alle professionell Pflegenden langfristig flächendeckende, bundesweit einheitliche Tarifverträge, die der professionellen Expertise und hohen Verantwortung ihrer Aufgaben gerecht werden. Insgesamt müssen die Rahmenbedingungen in der Pflege sowie deren finanzielle Ausstattung ver-bessert werden. Dies würde dauerhaft die während der Krise viel beschworene Wertschätzung ausdrücken.


Die Pflege muss in Entscheidungsprozesse in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft einbezogen und ihre Selbstverwaltung muss weiter gestärkt werden.


Schutz von Gebärenden
Frauen mussten, gerade zu Beginn der Pandemie, oft gänzlich ohne oder mit sehr eingeschränkter persönlicher Begleitung die Geburt ihres Kindes erleben.
Mit der Geburt geht jedoch der Prozess des gemeinsamen Elternwerdens und der Bindung des Kindes an die Eltern einher. Migrantinnen hatten oft keine oder nur unzureichende Übersetzungsmöglichkeiten. Verstärkte Unsicherheit und Angst wirkt sich oft komplizierend auf den Geburtsprozess aus. Frauen wurden durch die derzeit bestehende Mangelversorgunglage in den Kreißsälen zusätzlich enorm belastet.
Auch die Besuche auf den Wochenstationen waren stark eingeschränkt, wodurch es zu vermehrten frühen Entlassungen kam. Die ambulante Hebammenversorgung war jedoch aus Personalmangel bei Weitem nicht sichergestellt.

  • Frauen müssen jederzeit eine Begleitperson zur Geburt hinzuziehen können.
  • Frauen benötigen die kontinuierliche Begleitung einer Hebamme auch bei vorgeburtlicher Krankenhauseinweisung.
  • Die Betreuung durch Hebammen im Kreißsaal muss 1:1 gewährleistet sein.
  • Die Wochenbettbetreuung zuhause muss nicht nur theoretisch gewährleistet, sondern auch real abrufbar sein.
  • Hebammen müssen aufgrund ihrer Unerlässlichkeit in Entscheidungen einbezogen wer-den und in der Ausübung ihrer stationären, wie ambulanten Tätigkeit durch adäquate Bezahlung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen gestärkt werden.
  • Die Umsetzung der akademischen Ausbildung der Hebammen darf sich durch die Pandemie nicht verzögern.


4. Geschlechtersensible Medizin auch und gerade während der Krise
Seit einigen Jahrzehnten ist die Bedeutung biomedizinischer und psychosozialer Geschlechterunterschiede bei Diagnose und Therapie von Erkrankungen ebenso wie bei Prävention und Rehabilitation bekannt, und das Wissen darüber wird ständig erweitert. Die konsequente Umsetzung der Erkenntnisse in der medizinischen Mainstream-Forschung wie auch in der Aus-, Weiter- und Fortbildung von Ärzt*innen blieb bisher jedoch aus.

  • In klinischer und theoretischer medizinischer Forschung bedarf es grundsätzlich einer geschlechter- und diversitätssensiblen Datenerhebung.
  • Hinweise auf Geschlechtsunterschiede bei der Entwicklung von Symptomen, Schweregraden und Letalität müssen auf der biologischen, psychischen und sozialen Ebene sowie der Versorgungsebene untersucht werden, um Über- und Unterversorgungen qua Geschlecht zu erkennen bzw. zukünftig zu vermeiden. Dabei muss auch die Geschlechtervielfalt berücksichtigt werden, um Fehlbehandlungen zu vermeiden. Patient*innen sollen entsprechend des jeweils aktuellen Forschungsstands geschlechtersensibel behandelt werden.
  • Behandlungsleitlinien müssen grundsätzlich Aussagen zu möglichen Geschlechterunterschieden durch unterschiedliche Therapieoptionen enthalten.
  • Besondere Bedarfe und Bedürfnisse einzelner Personengruppen müssen auch in einer Krise grundsätzlich Berücksichtigung finden (z. B. inter- und transsexuelle Menschen).


Aus der Krise lernen
Die Corona-Pandemie hat in aller Deutlichkeit sichtbar gemacht, an welchen Stellen im Gesundheitswesen und in der Gesellschaft dringender Handlungsbedarf für eine geschlechtergerechte und diversitätssensible Umorientierung besteht. Der Landesfrauenrat Niedersachsen wendet sich mit diesem Papier an die Verantwortlichen in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft, um diese Umorientierung anzumahnen. Wir fordern einen grundsätzlich geschlechtersensiblen Blick auf die Erfahrungen aus der Corona-Krise und ihre Auswirkungen und entsprechende Konsequenzen für den zukünftigen Umgang mit Krisen- und Katastrophensituationen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert